Warum das Lucerne Festival seinem Motto nicht gerecht werden kann.

Text · Titelbild Björn (CC BY 2.0) · Datum 14.8.2019

Übermorgen feiert das Lucerne Festival seine Eröffnung. Die Sommer-Ausgabe steht dieses Jahr unter dem Motto »Macht«. Eine gute Wahl? Ja, wenn darüber geredet würde.

Adel, Klerus, Militär: So visualisiert das Festival das »Macht«-Motto. Auf den zweiten Blick entdeckt man dann noch weitere Mächte auf den Programmen: Die Hauptsponsoren mit ihren Logos. Denn die Geldgeber sind es, die die Macht beim Festival haben, schließlich sitzen alle Hauptsponsoren auch im Stiftungsrat (16 Männer, zwei Frauen). Darüber reden? Will man lieber nicht. Angesprochen auf die neuen Grenzen in der globalisierten Welt, zu denen Sponsoren wie Nestlé oder Roche beitragen, sagte Festivalintendant Michael Haefliger gegenüber VAN vor zwei Jahren: »Wir sind kein politisches Festival, es ist nicht unsere Aufgabe darüber zu urteilen oder eine Analyse zu machen.«

Bezogen auf diesen Sommer erwartet das Festival also eine Herausforderung: Vier Wochen zum Thema Macht, aber nie politisch werden… Ist das zu schaffen? Oder liefert sich das Festival mit der Macht-Ausgabe eine Steilvorlage, unterschiedlichen politischen Positionen einen Raum zu geben, oder gar selbst Stellung zu beziehen?

»Wir spüren in unseren Konzerten den verschiedensten Machtfragen nach. Wie hat sich die Politik der Musik bedient?«, fragt Intendant Haefliger im Grußwort zum Sommerprogramm, und sucht Antworten bei Beethoven, Wagner oder Mozarts Da-Ponte-Opern. Aber auch in der Gegenwart könnte er fündig werden. Zum Beispiel bei der Aufführung von Beethovens Neunter beim G20-Gipfel in Hamburg 2017, als die Staatschefs und -chefinnen in der Elbphilharmonie zu Brüdern und Schwestern wurden, während draußen auf den Straßen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Oder beim Konzert des Orchesters des Mariinsky-Theaters unter Valery Gergiev vor russischen Streitkräften in den Ruinen von Palmyra.

Mögliche Hinweise auf die Beantwortung von Haefligers Frage liefert aber auch das Eröffnungskonzert des Lucerne Festival, wenn der russische Pianist Denis Matsuev mit Riccardo Chailly und dem Festivalorchester auftritt. Der »Volkskünstler Russlands« hat diverse kulturelle Ämter in seinem Heimatland inne. 2014 unterschrieb er einen Brief, mit dem sich russische Kulturschaffende hinter Vladimir Putins Krim-Politik stellten. Darüber reden? Will er lieber nicht. So sagte er am 6. März 2019 in der FAZ, angesprochen auf ein Konzert in Kiew, das 2014 abgesagt wurde: »Ich habe damals aus Sicherheitsgründen auf das Konzert verzichtet. Wegen des Majdan war die Lage in Kiew sehr explosiv. Aber ich möchte nicht über Politik reden. Ich glaube, heute ist die Musik der wichtigste Arzt und Friedensstifter. Nie werde ich das Konzert mit Zubin Mehta vergessen, mit dem ich in Israel spielte. Da saßen Juden und Araber zusammen, hörten Musik, und alle Konflikte blieben außerhalb des Konzertsaals.«

Politik, so könnte eine Hypothese zu Haefligers Frage lauten, bedient sich der Musik oft, um machtpolitische Interessen unter dem weihevollen Anstrich eines klassischen Konzerts zu verbergen. Die Plattitüde von der »Musik als Ärztin und Friedensstifterin« sorgt dabei für eine willkommene Apolitisierung. Das Sichtbare der Macht wird versteckt in der Unsichtbarkeit der aus dem Inneren der Musik geheimnisvoll wirkenden humanistischen Werte. »Die Macht der Musik wird auch uns in ihren Bann ziehen«, schreibt Haefliger im letzten Satz seines Grußwortes. Ein Machtdiskurs, der zwar postuliert, dann aber nie explizit wird, sondern sich im Fassaden- und Alibihaften belässt, erscheint fast wie eine Erfindung der Macht selbst.

Ist es eine gute Idee, sich für ein Motto zu entscheiden, über das ein angemessener Diskurs aufgrund struktureller Abhängigkeitsverhältnisse gar nicht möglich ist?

Musiker*innen wie Festivals bewegen sich in komplexen Machtstrukturen, einem Dickicht aus Agenturen, Veranstaltern, Labels, Gönnern, Stiftungen, Sponsoren. Diese Strukturen sichern oft ihr Überleben. Das war in der Vergangenheit so und ist heute nicht anders. In der Arena des politischen Diskurses bewegt man sich dadurch auf dünnem Eis. Zu spüren bekam das letztes Jahr die Ruhrtriennale, die mit der Einladung des Hip-Hop-Trios Young Fathers einen Proteststurm lostrat. Die schottische Band ist ein Befürworter der BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen)-Bewegung, deren Ziel es ist, den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren. Intendantin Stefanie Carp hatte die Band nach Protesten ausgeladen, nur um sie am Ende wieder einzuladen, wofür sie von vielen Seiten harsche Kritik einstecken musste: Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland forderten Carps Ablösung, Armin Laschet (CDU), der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, das mit jährlich 12,65 Millionen Euro Hauptgeldgeber des Festivals ist, sagte seine Teilnahme an Veranstaltungen der Ruhrtriennale ab, einige forderten, die öffentliche Förderung des Festivals ganz einzustellen. Bezogen auf das Lucerne Festival, mit seinem Wunsch nach internationaler Strahlkraft und einer zu über 40 Prozent privaten, dadurch volatilen Förderstruktur, könnte man fragen: Ist es generell eine gute Idee, sich für ein Motto zu entscheiden, über das ein angemessener Diskurs aufgrund struktureller Abhängigkeitsverhältnisse gar nicht möglich ist? Nicht zuletzt nimmt man sich damit ja auch die Möglichkeit, mit einem Motto als konzeptionelle Klammer einen wirklichen inhaltlichen Impuls und eine dramaturgische Stringenz zu initiieren.

Zum Beispiel so wie vor drei Jahren, als die Sommer-Saison in Luzern unter dem Motto »Primadonna« stand. Der Umgang damit war zwar auch damals etwas unbeholfen, siehe das klischeebeschwerte Logo, aber die Ungleichbehandlung und Unterrepräsentation von Frauen im Klassikbetrieb ist ein Thema, das nicht nur inhaltliche Impulse dringend benötigt, sondern mit dessen Behandlung sich eine Institution wie das Lucerne Festival nachhaltig profilieren könnte.

Im Jahr darauf sagte Intendant Haefliger in VAN: »Wir sind alle sehr glücklich, dass wir es gemacht haben. Jetzt ist die Herausforderung für die Zukunft, es weiter zu pflegen, intensiver als andere, die sagen: ›wir gehen es mal locker an‹.« Nun scheint es, als ginge man es in Luzern tatsächlich eher locker als intensiv an. Schon 2016 traten die meisten der von Haefliger engagierten elf Dirigentinnen (gegenüber 17 Dirigenten) bei einem separaten »Erlebnistag« auf und nicht im regulären Programm. 2017 fanden sich gerade mal zwei Dirigentinnen im gesamten Festivalprogramm.

Und wie viele Frauen dirigieren durch den Macht-Sommer? Eine einzige: Ruth Reinhardt mit der Lucerne Festival Academy. Vielleicht sind dafür mehr Stücke von Komponistinnen zu hören? Leider nicht, es sind bei über 100 Veranstaltungen gerade mal drei: eine Uraufführung im Rahmen der Roche Young Commissions von Marianna Liik, ein zweiminütiges Stück von Anna Clyne in einem Debütkonzert und ein Stück für Heinz Holliger von Younghi Pagh-Paan. Haefligers Ankündigung von 2017 liest sich rückblickend mehr wie ein »Genderwashing« denn als effektiver »call for action«. Denn dieser Sommer zeigt in aller Deutlichkeit: Die Musikmacht ist und bleibt männlich.

Der Zukunftswind, der bis vor wenigen Jahren unüberhörbar durch Luzern rauschte, scheint abgeflaut. Mit Claudio Abbado und Pierre Boulez hat sich Intendant Haefliger von zwei Gallionsfiguren verabschieden müssen; Abbado-Nachfolger Chailly fliegen bis jetzt die Herzen nicht wirklich zu, und Boulez-Ersatz Matthias Pintscher hat letzten Sommer mitten im Festival Hals über Kopf sein Amt als Academy-Leiter niedergelegt. Oder niederlegen müssen? Das weiß man nicht. Denn Kommunikation fand und findet diesbezüglich nicht statt. Pintscher ist ein Tabu-Thema.

Auch die Programme des Festival-Orchesters wirken uninspiriert: Auf einen Richard-Strauss-Abend 2017 folgte letzten Sommer ein Ravel-Abend und heuer ein Rachmaninow-Abend. Das zweite Programm mit Artist-in-Residence Leonidas Kavakos und Beethovens Violinkonzert wird nicht von Chailly dirigiert, sondern von Yannick Nézet-Séguin. Ursprünglich war Stravinskys Violinkonzert mit Chailly angekündigt, aber Chailly zog sich vom Engagement zurück. Die Begründung? Ungewiss. Das dritte Programm widmet sich Mahlers Sechster Symphonie. Will man nach Jahren der Abgrenzung vom Abbado-Erbe nun doch zurück zu den Wurzeln? 2017 sagte Chailly auf dem festivaleigenen Blog: »Unter Claudio Abbado war die Identität des Lucerne Festival Orchestra eindeutig durch die Auseinandersetzung mit Gustav Mahler geprägt. […] Die Identität, die ich mit dem Orchester aufbauen will, gründet dagegen auf anderen Komponisten, und zwar auf solchen, die hier bislang weniger gespielt wurden.«  

Es scheint, als wäre dem Festival sein Kompass abhandengekommen. Auch die Sprache, in der sich das Festival präsentiert, wirkt oft merkwürdig diffus, lust- und lieblos. Zum diesjährigen Eröffnungskonzert heisst es im Day-by-Day-Programm: »Riccardo Chailly und das Lucerne Festival Orchestra kombinieren sie [die dritte Symphonie, d. R.] mit zwei Rachmaninow-Hits: der Vocalise und dem Drittem [sic!] Klavierkonzert, einem waghalsigen Dribbling auf 88 Tasten.« In den Ankündigungen zum Konzert mit Cecilia Bartoli und Teodor Currentzis trifft in feinster gender-stereotyper Typisierung der »geheimnisumwitterte Guru« Currentzis auf »La Bartoli«, die »temperamentvolle italienische Mezzosopranistin«. Pianist Denis Matsuev sei »die allererste Adresse, wenn es um Sergej Rachmaninows Klaviermusik geht«, Andrés Orozco-Estrada ein »kolumbianischer Pultmagier«, Currentzis ein griechischer. Tabea Zimmermann ist die »unangefochtene Königin im Bratschenreich«, Igor Levit »provoziert wie kaum ein zweiter Musiker zum Nachdenken«, und wenn Vilde Frang Bruchs Violinkonzert spielt, ist es »Geigenkunst vom Feinsten« und »Musik zum Schwelgen«. Bei Bomsori Kim sei die Bedeutung ihres Nachnamens [zu Deutsch »Gold«] durchaus angebracht, schließlich bringe sie »mit ihrem Spiel die Musik zum Funkeln.«

Was der Sprache an Inspiration und Präzision fehlt, geht in gewisser Weise auch dem Programm und seinen besonderen Konzertformaten ab. So bespielt die erfolgreiche Lucerne Festival Academy heuer nur noch zwei statt wie bisher drei Wochen des Festivals, und Lucerne Festival Young beschränkt sich darauf, Einladungen auszusprechen statt wie bisher eigene Programme zu produzieren. Das ist nicht nur weil der letzte Sommer unter dem Motto »Kindheit« stand bedauerlich, sondern auch, weil sich die Eigenproduktionen des Festivals immer als äußerst dicht, durchdacht und nachhaltig erwiesen haben.

»Vier Wochen zum Thema Macht, aber nie politisch werden… Ist das zu schaffen?« Warum das Lucerne Festival seinem Motto nicht gerecht werden kann. Ein Kommentar von Katharina Thalmann in @vanmusik.

All das erweckt den Eindruck des Krisenhaften und einer gewissen Orientierungs- und Ratlosigkeit. Dazu passt, dass das Festival diesen Frühling seine Oster- und Klavierausgabe gestrichen hat. Man wolle auf eigene Stärken setzen, das Kernprofil schärfen, sich auf die »Verbundenheit des Festivals mit seiner Heimatstadt und -region Luzern« besinnen. Was in der Medienmitteilung unerwähnt blieb: Im Verlauf des letzten Jahres wurden beim Festival diverse Stellen gekürzt oder Abgänge nicht mehr ersetzt, so zum Beispiel das Management von Lucerne Festival Young, das interimsweise von der künstlerischen Leitung übernommen wurde. Offenbar ist die Wachstumsphase des Lucerne Festivals vorerst vorbei. Es bleibt zu wünschen, dass die Konzentration auf den Sommer neue künstlerische Produktivität, Lust und ganz viel Mut frei setzt. ¶