Seit dem Spätsommer 2014 ist Kevin John Edusei Chefdirigent der Münchner Symphoniker. Wir treffen uns in einem Café in Schwabing, an einem milchig-schönen Herbsttag. Er ist konzentriert, freundlich, klar. Im Verlauf unseres Gesprächs tauchen die wichtigen biografischen Stationen des gebürtigen Bielefelders auf: Edusei studierte Schlagzeug, Tonmeister und Dirigieren in Berlin und Den Haag. Das Studium finanzierte er sich mit Schlagzeug-»muggen« in zahlreichen Orchestern und Ensembles – dem Residentie Orkest Den Haag, Amsterdam Sinfonietta, Nederlands Kamerorkest, ASKO/Schönberg Ensemble. Während des Studiums wurde auch die Zeit für sein experimentelles Jazztrio langsam knapper. Danach war er sieben Jahre lang erster Kapellmeister an den Theatern Bielefeld und Augsburg, später Assistent beim Ensemble Modern, als wichtigen Mentor bezeichnet er Péter Eötvös.

Wie kommen Sie klar mit München?

Ich komme aus dem Norden und bin sehr Berlin-affin, München ist schon speziell, aber ich mag diese Lebenskultur, diese Lust am guten Leben.

Wie ist es mit der Musik in Ihrem Kopf, ist die ständig da?

Wenn ich länger laufen gehe, dann nicht mehr. Sonst fast immer und gerne.

Größere musikalische Bögen als der Durchschnittsbürger?

Nicht immer.

Sie haben Pauke und klassisches Schlagzeug gespielt. Wie fühlt sich das an, wenn man wenig Einsätze in einem Stück hat? Ist das eine spezielle Art von Angst?

Das ist eine große Leere, ein Horror Vacui. Das kann aber auch eine ganz eigene Meditation werden, zum Beispiel haben Trompeter, die ich kenne, ganze Beethovensinfonien internalisiert und spielen die prinzipiell immer auswendig. Das ist zwar überschaubar, aber auch ein gewisses Risiko, weil man ja ein lautes solistisches Instrument spielt. Ich habe beim Pauke spielen sehr viel Zuhören gelernt.


»Jeden Schuh sollten Sie sich nicht anziehen, aber immer nur barfuß geht auf Dauer auch nicht.«


War Ihr Tonmeister- und das Schlagzeugstudium eine unmittelbare Vorbereitung dafür, Dirigent zu werden? Da gibt es ja grundlegende Verbindungen, Raumklang, Rhythmus zum Beispiel.

Nein, das war eher so, dass ich herausfinden musste, was ich unbedingt machen will. Ich bin immer sehr breit interessiert, schnell von Dingen fasziniert. Dass es das Dirigieren sein wird, stand bei mir erst mit Mitte 20 fest.

Spüren Sie einen Anpassungsdruck an die Agenturwelt?

Ich beäuge es schon kritisch, wie manche Karrieren geführt werden von Agenturen. Ich sehe das natürlich in meiner jetzigen Situation als Chefdirigent bei meinem Orchester, da kommen viele junge Solistinnen und Solisten. Und man merkt, wer einen guten und wer einen weniger guten Agenten hat. Man braucht eine gute Art von Kritik, von Spiegelung, die einem weiterhilft. Auch als Dirigent kriegt man immer so einen komischen Mix aus Feedback, es prasselt vieles auf einen ein. Presse, Agenturen, Ratgeber.

Welche Stimmen kommen in diesem Mix vor?

Die Palette reicht oft von kritikloser Bewunderung bis zu totaler Ablehnung. Wenn Sie mit dem, für das Sie einstehen, spalten, liegen Sie aber meistens gar nicht so verkehrt. Dann mischen sich noch unglaublich viele sehr gut gemeinte Ratschläge in den Mix, mit denen schwierig zu verfahren ist. Jeden Schuh sollten sie sich nicht anziehen, aber immer nur barfuß geht auf Dauer auch nicht. Wenn sie selbst einem hohen eigenen Anspruch gerecht werden wollen, kommen sie den meisten Kritikern eh zuvor.

War bei Ihnen aufgrund dieser Selbstbestimmtheit der Druck kleiner?

Wenn man als Kapellmeister an einem deutschen Theater mittlerer Größe arbeitet, dann hat man auch großen Druck. Ich kann mich an eine Spielzeit erinnern, da habe ich 10 verschiedene Opern dirigiert, Don Carlos, Fidelio, Lucia di Lammermoor, Madame Butterfly, Zar und Zimmermann, Figaro, Entführung aus dem Serail, Cardillac und Tosca – die Letzte ist mir entfallen … nein, Adriana Lecouvreur. Das alles innerhalb einer Spielzeit, dazu noch die Sinfoniekonzerte. Klar erzeugt das Druck, und wenn man damit gut umgeht, kann man daran wachsen.


»Aber natürlich gibt es auch viele Agenturen, die das schnelle Geld verdienen wollen und dafür versuchen, möglichst junge Leute sofort in prestigeträchtige Positionen zu bringen.«


Ist für das Wachsen heute weniger Zeit?

Wie schon angedeutet, es gibt solche und solche Agenturen, manche bauen sehr verantwortungsvoll, ruhig und langfristig Karrieren auf. Aber natürlich gibt es auch viele, die das schnelle Geld verdienen wollen und dafür versuchen, möglichst junge Leute sofort in prestigeträchtige Positionen zu bringen.
Es gibt natürlich auch diese hochtalentierten jungen Dirigenten und Dirigentinnen, die das können – die sind dann leider das Modell für möglichst viele andere Karrieren. Wir hören wenig von den Leuten, die vom Wagen gefallen sind. Das ist anders als in der Generation von zum Beispiel Kurt Masur oder nehmen wir Karajan, der in Ulm war, in Aachen, Zeit hatte, sich zu entwickeln … ich stelle mir schon öfter die Frage: Was haben denn meine Altersgenossen und ich schon zu erzählen?

Das ist ein heißes Eisen, weil man auch deutlich spürt, dass je öfter man ein Stück macht, man desto tiefer in der Interpretation an einen Kern dringt. Klar, ich würde mir wünschen, dass der Zeitdruck rausgenommen wird, aber das ist eine Utopie, das wird nicht passieren.

Was sind das denn für Signale, die Sie bei Musiker/innen sehen, wenn die auf dem Weg sind verheizt zu werden?

Manchmal bekommt man im Gespräch schon öfter die Chance, hinter die Fassade zu blicken. Man muss nur mal fragen, wo kommst du denn gerade her, wo bist du aufgetreten? Da stößt man zum Teil auf ziemlich gestresste Personen mit übervollen Konzertkalendern. Aber das betrifft auch die Wahl des Repertoires. Ich frage mich öfter, ob bestimmte Stücke schon ›dran‹ sind. Als junger Geiger könnte es besser sein, das Mendelssohn-Konzert zu spielen als gleich Beethoven, grob gesprochen. Ich sehe da die Agenten gefordert, dass sie so etwas einzuschätzen wissen.

Können Sie als Dirigent da auch korrigierend gegensteuern?

Wir schauen schon sehr genau darauf, welchen Solisten wir mit welchem Repertoire anfragen. Aber ich weiß es auch nicht immer! Man kann auch mit einer unkonventionellen Programmierung ein glückliches Händchen beweisen.

In den Konzertkritiken wird in Bezug auf die Münchner Symphoniker eine Aufbruchsstimmung angedeutet. Parallel dazu gab es in der Süddeutschen zu zwei ihrer letzten Konzerte Kritik an den jeweiligen Solist/innen. Die fielen den Autoren aus unterschiedlichen Gründen negativ auf. Kommt so etwas auch deswegen vor, weil ein Orchester gerade sehr mit sich selbst beschäftigt ist?

Nein, gar nicht. Gerade bei Harriet Krijgh konnte ich die Kritik nicht nachvollziehen. Das ist zum Teil auch eine Generationenfrage: Sie hat nämlich einen ganz anderen Celloklang im Kopf und in den Ohren, als gemeinhin erwartet wird. Sie bringt ein ganz feines Spiel mit, und es war nach meinem Dafürhalten eine wirklich sehr nuancierte Interpretation der (Tschaikowskis) Rokoko-Variationen.

Lesen Sie Kritiken? 

Ich lese natürlich Kritiken. Aber ich würde gerne noch mehr von jenen lesen, die als Prosa lesenswert sind. Ich finde die Rezension als literarische Form interessanter, als wenn es nur auf so einer deskriptiven Ebene bleibt: ›der Hornist hat gekiekst‹ und so.

Wen lesen Sie denn gerne?

Eleonore Büning schafft es sehr gut, Dinge, die um das Konzert herum noch passieren, mit musikalischen Zusammenhängen zu verweben. Von Peter Hagmann habe ich ganz tolle, inspirierende Kritiken gelesen, solche, in denen er zum Beispiel auch noch nebenher einen Abriss über die Diskografie anbietet, die es zu einem Werk gibt.

Könnten Sie ihr Bild von Erfolg beschreiben, zum Beispiel in Bezug auf die Münchner Symphoniker am Ende Ihrer Vertragslaufzeit? 

Schwierig, da spielen viele Faktoren zusammen. Mit Annette Josef, der Intendantin, haben wir strategische Überlegungen angestellt, wie wir das Orchester in München positioniert sehen, in diesem Haifischbecken an weltberühmten Orchestern, auch: welches die Anknüpfungspunkte an unser Publikum sind. Es gibt ja schon seit vor Beginn meiner Zeit hier diesen Slogan ›Der Klang der Stadt‹, ich finde das passt sehr gut: ein warmherziges, bodenständiges Orchester, dem Arroganz fremd ist, eine erfrischende Stimme in München.
Für mich ist auch sehr entscheidend, wo ich mit meiner Repertoire- und Programmplanung hin will. Da bin ich auf eine Öffnung aus; mich interessieren die Ränder des Repertoires, auch Klänge aus dem 19. Jahrhundert, die oft durch das Raster fallen. Darüber hinaus versuchen wir Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns die Arbeit im Orchester erleichtern.

Stoßen Sie da manchmal an gewisse Grenzen, die mit dem Wesen eines öffentlich finanzierten Orchesters zusammenhängen, Motivationsprobleme?

Ich glaube, das hat wenig mit Subventionen, sondern eher mit unterschiedlichen Charakteren und den Schwächen des menschlichen Charakters im Allgemeinen zu tun, auch in freien Ensembles. Mein Orchester hier in München muss sich ständig beweisen muss, wir greifen nicht auf das Riesenbudget anderer Orchester zurück; dafür haben wir eine ungemein hohe Einspielquote. Das setzt voraus, dass die Musiker wahnsinnig viel leisten, wir spielen mehr Dienste als andere Orchester und werden dafür schlechter bezahlt.

Mit unserem sehr wachen Orchestervorstand und dem gut besetztem Betriebsrat kann man richtig gut reden! Das macht Dinge einfacher, wir bleiben dadurch flexibel. Ich weiß aber von anderen Orchestern, dass genau das auch sehr schwierig sein kann – Probenbeginn, Reisedienst, Dienstlimits, Einteilung und so weiter. Es gibt schon ein paar Dinge im Tarifsystem, die wahnsinnig überholt sind. Ich habe die Vermutung, dass sich da ziemlich viel ändern wird, unabhängig davon, ob ich das jetzt gut oder schlecht finde.

Was ist denn das spezielle Publikum bei den Symphonikern?

Schwierig, mir wurde gesagt, München sei so wahnsinnig konservativ und zurückhaltend. Klar findet man hier nicht generell so eine offene Haltung, wie vielleicht in Berlin. Aber man darf dieses Publikum hier auf keinen Fall unterschätzen, auch in der Bereitschaft, Dinge mitzumachen, neue Erfahrungen zu suchen. Ich habe zum Beispiel von Jiri Anton Bendas Medea ein Melodram programmiert, eine ganz ungewöhnliche Form, in der das Rezitieren von Text auf klassisches Orchester trifft, das kannte natürlich kein Schwein, wurde aber begeistert aufgenommen. Auch Boccherinis Sinfonie La Casa Del Diavolo, vorige Woche im Programm – das zählt auch nicht zu den »Schlachtrössern«, aber man hört dann spätestens beim Applaus, das man etwas zum Klingen gebracht hat.

Wann merken Sie für sich, dass Sie klanglich auf dem richtigen Weg sind?

Ich will erreichen, dass das Orchester stilistisch differenzierter agiert, dass Brahms nicht wie Schumann klingt und Schumann nicht wie Mendelssohn oder Schubert. Einfach die Palette an Klangfarben und stilistischen Mitteln vergrößern. Ich glaube, es ist auch wahnsinnig wichtig für das Orchester, sich noch mehr mit historischer Aufführungspraxis auseinanderzusetzen, das ist ja auch nichts Neues, das macht auch das BR-Symphonieorchester, wenn sie sich Ton Koopman holen. Bei uns ist es ein bisschen vernachlässigt worden, wir fangen jetzt damit an. Attilio Cremonesi macht bei uns als Gastdirigent ein Barockprogramm, da gibt es unter anderem eine sehr selten gespielte Sinfonie von Étienne-Nicolas Méhul. Und: Wir müssen noch mehr Moderne Musik spielen, da sind in den letzten Jahren ein paar Lücken geblieben. Das Orchester hat zum Beispiel sehr wenig Bartók, Strawinski and beyond gespielt. Und bei all dem will ich das Publikum mitnehmen, zum Beispiel diese etwas aufgelockerte Einführungsveranstaltung auf der Gelben Couch, die Annette Josef und ich bei Ebay ersteigert haben, sind in dieser Hinsicht ein Berührungspunkt. Wir laden zum Beispiel das Publikum dazu ein, per Postkarten-Entscheid die nächste Konzert-Zugabe bestimmen. Insgesamt ist mir wichtig, dass das Publikum versteht, dass wir für sie da sind und warum wir die Dinge tun, die wir tun.


»Vielleicht sammelt man in so einer monogamen Langzeitbeziehung mit einem Orchester auch Erfahrungen, die man nicht einfach so in einer kurzen Affäre reproduzieren kann. Unser Business steuert sehr auf die kurze Affäre zu.«


Sie sind ja nicht nur in München Chefdirigent, sondern auch am Konzert Theater Bern, sind bei anderen Orchestern zu Gast. Hat man da für jeden einzelnen Klangkörper ein Gefühl, wie bei einem Auto, in das man sich reinsetzt?

Ja, auf jeden Fall. Das ist mein Instrument, und wenn es wechselt, muss ich mich erst wieder vertraut machen: Wie reagiert so ein Klangkörper, nicht nur vom Klang, sondern auch psychologisch, emotional?

Aber sie müssen bei diesen Verpflichtungen dann doch viele Passagen ungeprobt lassen, oder? Einfach laufen lassen und sehen, wie es im Konzert rüberkommt?

Wie jetzt ›ungeprobt‹? Wo kommen wir denn da hin? Nichts da! (lacht).

Wann glauben Sie, ist die Zeit gekommen, wo man mit einem Orchester nichts mehr bewirken kann, die Arbeit zu Ende ist und man weiter ziehen muss?

Klar, man kann sich verbrauchen. Aber ich finde viel entscheidender, sich mal so Dirigentenkarrieren wie die von Bernard Haitink oder Kurt Masur anzuschauen, die beide, ich glaube, über 25 Jahre mit ihren Orchestern gearbeitet und diese Orchester total geprägt haben. (Kurt Masur war von 1970 bis 1997 Gewandhauskapellmeister in Leipzig, Haitink war von 1961 bis 1988 Chefdirigent beim Concertgebouw-Orchester Amsterdam). Es ist schade, dass unsere Zeit so kurzlebig geworden ist und so viele Wechsel stattfinden. Vielleicht sammelt man in so einer monogamen Langzeitbeziehung mit einem Orchester auch Erfahrungen, die man nicht einfach so in einer kurzen Affäre reproduzieren kann. Unser Business steuert sehr auf die kurze Affäre zu. Obwohl, es gibt Ausnahmen, wie Jonathan Nott. (Der mit dem Tokyo Symphony Orchestra im September einen Vertrag bis ins Jahr 2026 abgeschlossen hat).

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Kevin John Edusei bei den Münchner Symphonikern

Würde es in dieser Logik von außen als Makel erachtet, wenn Sie zu lange bei den Münchner Symphonikern bleiben?

Ach, das kann sein, aber das muss ich dann aushalten. Meine Zielsetzung für die Münchner Symphoniker ist noch nicht abgeschlossen.

Verhindern Ihre sehr weit gedachten Programme, diese Suche nach Vielfalt, nicht auch, dass Sie für Ihre Interpretation eines bestimmten Komponisten bekannt werden?

Kann sein, aber das ist vielleicht eine Generationenfrage, wir machen das heute anders. Ein Beispiel: Mein sehr geschätzter Kollegen Pablo Heras-Casado, der kommt aus der Vokalmusik, hat sehr viel Neue Musik dirigiert und dann mit dem Freiburger Barockorchester eine Schubert-CD veröffentlicht. Das ist die Anforderung an uns Dirigenten heute.

Ich glaube sogar, dass die Zeit der Spezialensembles bald vorbei sein müsste. In den 1960er und 70er Jahren schossen diese ganzen Moderne-Musik-Ensembles und auch die Alte-Musik-Ensembles aus dem Boden wie Pilze. Aber schon damals hat Pierre Boulez gefordert, dass es Orchester mit einem großen Musikerpool geben müsse, aus dem man dann je nach Stilepoche schöpfen kann. An diesem Punkt sind wir jetzt schon fast. So viele Musiker/innen, die jetzt in die Orchester kommen, haben zuhause ihre Barockinstrumente, waren Stipendiaten beim Ensemble Modern, sind einfach breit aufgestellt. Und wir dürfen die Randbereiche nicht aufgeben, die müssen wir ins Konzert holen. Deswegen wünsche ich mir sehr viel kleinteiligere Programme, in denen verschiedene Epochen zusammentreffen, in den Dialog treten. Mein Antrittskonzert in Bern von letzter Woche kommt dieser Vorstellung sehr nah. Wir haben die Symphonie fantastique gespielt, aber aufgebrochen – mit Texten von Houellebecq, Dante Alighieri, Daniel Pennac, Berlioz selbst; ich habe sogar bestimmte musikalische Teile ausgetauscht gegen Sachen von Claude Vivier, Marc-Anthony Turnage, Luigi dalla Piccola, Edgar Varèse. So stelle ich mir das für die Zukunft vor. ¶