Die Komponistin Milica Djordjević wuchs in den 80er und 90er Jahren in Belgrad auf, erlebte ihre Kindheit und Jugend inmitten der Balkankriege. Nur knapp sieben Jahre lang, sagt sie, habe sie ein »normales Leben« und »eine Art Kindheit« gehabt – dann begann sie, mit ihren Eltern täglich auf Demonstrationen zu gehen, friedliche Proteste gegen die Politik Slobodan Miloševićs, auf die 1999 Angriffe und Bombardierungen der NATO folgten. Sie erlebte extreme Armut, Inflation, Hunger, Angst. »Diese Kriege waren eine Katastrophe, die ganze Länder verwüstet hat, und deren Folgen über drei Generationen hinweg wirken«, sagt Djordjević im Interview. Es waren jedoch nicht die Kriege, die die junge Komponistin nach Westeuropa trieben – sondern ihre Liebe zur Musik und die hiesigen Ausbildungsmöglichkeiten. Mittlerweile ist Milica Djordjević Trägerin des Belmont-Preises für zeitgenössische Musik, des Ernst-von-Siemens-Komponist:innenpreises und des Claudio-Abbado-Kompositionspreises, der ihr beim Musikfest Berlin im September verliehen wird. Am 22. September wird dann auch ihr neues Stück, ein Kompositionsauftrag der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, uraufgeführt.

VAN: Bald starten die Theater in die nächste Saison, es dürfen wieder Konzerte stattfinden – fast fühlt es sich ein bisschen unwirklich an, nach Monaten ohne Livemusik, ohne Theater. Wie haben Sie diese Zeit, die letzten Wochen und Monate erlebt?

Milica Djordjević: Tatsächlich war das für mich schon der vierte offizielle Ausnahmezustand. Natürlich kann man Kriege nicht mit Pandemien vergleichen, aber das Gefühl, das ich hatte, als ich in der ersten Woche durch Berlin gegangen bin – die komplett leeren Straßen, die leeren Geschäfte, dass man nirgends Toilettenpapier oder bestimmte Lebensmittel bekommen konnte, hat bei mir ungeheure Flashbacks ausgelöst. Das war echt krass. Dazu kam die Sorge um Familie, um Freunde, um alles – die ganzen abgesagten und verschobenen Konzerte, das war am Anfang wirklich schwer für mich.

In Ihrem Fall waren zwei Uraufführungen davon betroffen: Mit o ptici für Chor und Orchester bei musica viva in München und INDIGO R-offprint 1 für Streichquartett in Amsterdam – beide sollten im Juni stattfinden.

Mit o ptici war ein Monsterwerk! Für großes Orchester und 44 Sänger:innen. Ich habe mehr als anderthalb Jahre aktiv daran gearbeitet, plus Vorbereitungszeit mit vielen Recherchen und so weiter. Dieses Stück zu schreiben war eine unglaubliche Reise, unfassbar abenteuerlich, manchmal unwirklich. In der Quarantäne-Situation habe ich versucht, es fertig zu schreiben und habe es auch geschafft – aber danach habe ich mich absolut leer gefühlt.

Es gibt Menschen, die würden jetzt sagen, für Komponist:innen könne der Unterschied in der Arbeit während des Lockdowns gar nicht so gravierend gewesen sein. Wie war es für Sie?

Wenn ich das höre, kriege ich einen nuclear meltdown. Wirklich. Das ist absoluter Quatsch. Selbstverständlich brauchen wir Ruhe, wir müssen auch mal allein sein, aber dann sind wir absolut frei, unsere Zeit zu organisieren. Wir können uns bewegen, wir können Leute treffen, feiern gehen, wir proben und gehen in Konzerte, wie alle anderen auch. Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Branche, die Musik, komplett allein gelassen wurde, als es hieß, Kunst sei entweder Luxus oder bloße Unterhaltung, und gerade gibt es andere Prioritäten. Für uns bedeutete das aber ein regelrechtes Arbeitsverbot, ein Berufsverbot. Wir galten sogar als gefährlich, besonders Sänger:innen und Blechbläser:innen. Dabei ist Kunst keine Nebensache, Kunst ist wirklich notwendig, wie Luft und Wasser. Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele Konzerte nicht abgesagt, sondern nur verschoben wurden.

Wie ist es, wenn Sie ihre Werke, die dann schon seit Monaten fertig sind, zum ersten Mal hören?

Das wird für mich eine Premiere, dass ich eins meiner Stücke mit so viel zeitlichem Abstand zum ersten Mal höre. Normalerweise sind die Stücke ein paar Monaten vor der Uraufführung fertig, dann proben wir, und dann geht alles ganz schnell. Der Beginn meiner Arbeit an Mit o ptici ist schon mehr als zwei Jahre her. Da bin ich sehr gespannt drauf.

Gehören Sie zu den Komponist:innen, die in den Proben ganz pingelig darauf achten, dass alles exakt so gespielt wird, wie Sie es sich vorstellen?

Die Proben sind vielleicht mein liebster Teil der ganzen Arbeit. Das ist immer so spannend! Ich habe schon eine genaue Vorstellung davon, wie es klingen soll. Ich habe diese Schwäche: Ich kaufe ständig Instrumente und probiere alles aus und recherchiere zusammen mit Musiker:innen – manchmal mit denen, für die ich schreibe, manchmal einfach auch nur mit Freund:innen. Ich weiß also, was ich tue. Ich versuche, einen Klang, den ich im Kopf habe, genau zu beschreiben, sodass ich eine möglichst klare, realistische und verständliche Information in der Partitur an die Musiker:innen geben kann. Aber das Schöne ist, dass ich bei den Proben immer neue Sachen entdecke, wenn zum Beispiel unterschiedliche Ensembles dasselbe Stück spielen, und jedes Ensemble spielt es anders. Kleine Nuancen, Farblichkeiten, das sind manchmal echte Wow-Momente.

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Schreiben Sie Stücke um, wenn Ihnen solche Ideen in den Proben begegnen?

Das hängt ganz davon ab. Manchmal ist es wirklich fantastisch, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Manchmal passt es aber auch nicht mit dem zusammen, was mir wichtig ist. Dieses gemeinsame Musizieren hat mir im letzten Jahr extrem gefehlt, das gemeinsame Suchen nach Klängen, das Erforschen der kleinen, winzigen Details.

Komponieren Sie auch so?

Ich beschäftige mich eigentlich mit Materialien, das ist die Hauptsache. So ein Material kann eine kleine Situation sein, nur ein Klang, eine Farbe oder eine harmonische Konstellation, also etwas sehr Elementares. Danach suche ich. Wenn ich es gefunden habe, bin ich absolut besessen davon, es ist eine Art Obsession. Ich muss es dann von jeder Seite anschauen und es untersuchen, von oben, unten, aus verschiedenen Perspektiven, in unterschiedlichem Licht und so weiter, ich kann einfach nicht anders.

Manchmal klingt es in Ihrer Musik, als würde man Ihnen beim Suchen und Erforschen eines Klangs zuhören, bis in die absoluten Extreme hinein. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?

Irgendwie ist der Duktus sehr körperlich und auch nicht selten heftig. Meine melodischen Linien sind mehr oder weniger knapp und reduziert. Und gleichzeitig würde ich auch sagen: differenziert und rau. Manchmal schreibe ich auch das Wort ›roh‹ in die Partitur – denn es geht mir tatsächlich weniger um Harmonie und Schönklang als vielmehr um etwas wirklich Lustvolles, um ein Erlebnis des Elementaren. Und das geht nicht ohne diese Suche und die unterschiedliche Beleuchtung des Klangs, ohne diese Mikrosituation und Verwandlung. Das ist ein unheimlich schönes Spiel. Musik ist für mich etwas unglaublich Körperliches und vor allem etwas Sinnliches. Das muss nicht unbedingt schön oder narrativ sein. Was ich suche, ist eher eine Art Wechselbeziehung zwischen einem sehr präzis organisierten Klang und einer im Grunde einfachen sinnfälligen musikalischen Form.

In der zeitgenössischen Musik ist es manchmal schwierig, Kategorien zu finden, um die Qualität eines Werks zu bewerten. Was sagen Sie: Was ist gute zeitgenössische Musik?

Was ich unglaublich schön finde in unserer Zeit, und vor allem in der Musik, ist, dass es auf der einen Seite diese ungeheuer reiche und bedeutende Tradition gibt und sich auf der anderen Seite unbegrenzte Möglichkeiten öffnen, die wir noch gar nicht kennen und uns vielleicht noch gar nicht vorstellen können. Es entwickelt sich rasant. Hier eine Position zu finden, was jetzt in Neuer Musik gut oder schlecht ist, ist schwer. Gut und schlecht sind, wie ich finde, als Kategorien deplatziert. Wer entscheidet denn, was gut und was schlecht ist?

Zum Beispiel Kritiker:innen, das Publikum, Menschen und Institutionen, die Preise vergeben, Labels, die jemanden ins Portfolio aufnehmen …

Ich weiß nicht, ich würde es gern anders ausdrücken. Die Situation, in der wir uns gerade ästhetisch befinden, mit dieser Geschichte und dieser Zukunft, ist nicht einfach. Aber der krampfhafte Versuch, unbedingt unglaublich neu, originell und so wahnsinnig einzigartig zu sein, ist meiner Meinung nach das sicherste Rezept für Misserfolg.

Warum?

Ich glaube, dass man vor allem frei und autonom sein muss. Das hat gar nichts mit Provokation zu tun. Meiner Meinung nach ist Provokation als solche absolut uninteressant, unfassbar langweilig. Das einzige, was für mich funktioniert – und dabei kann ich nicht sagen, ob das dann gut oder schlecht ist –, ist eine Musik, die autonom und authentisch ist, die einer Ausdrucksweise folgt und das sehr mutig zeigt. Dabei sind auch Stil oder Genre egal. Wenn eine wirkliche eigenständige und autonome Authentizität da ist, dann funktioniert es.

Wie wichtig ist Ihnen, was das Publikum denkt?

Wenn ich schreibe, denke ich nicht an das Publikum. Aber gleichzeitig haben, glaube ich, alle Komponist:innen immer im Kopf, dass die Musik auch andere Leute hören werden außer ihnen selbst. Das Publikum ist sehr wichtig, weil es der Resonanzraum für unsere Musik ist. Im Weltall gibt es auch keinen Klang, weil dort ein Vakuum herrscht, und ohne Luft gibt es keine Möglichkeit, Klänge zu hören. Genauso kann Musik nicht hermetisch und isoliert stattfinden, ohne Publikum. Das heißt aber nicht, dass es für mich irgendwie eine Option wäre, Musik nach Wünschen zu schreiben oder zu versuchen jemandes Geschmack zu treffen. Das interessiert mich überhaupt nicht.

Wie kamen Sie überhaupt zum Komponieren?

Die Geschichte hat einige Wendungen genommen. Ich war ein sehr dynamisches Kind und sehr vielseitig begabt, meine Eltern hatten es deshalb nicht immer leicht mit mir. Schon ganz früh lag mein Hauptinteresse bei der Kunst, und ich wollte Malerin werden. Damit habe ich mich einige Zeit beschäftigt, habe dann aber mein Interesse für Musik entdeckt und mich einfach an der Musikschule gegenüber zum Klavierunterricht angemeldet. Dort habe ich ein paar Eignungstests gemacht und bin danach nach Hause gerannt und habe stolz verkündet, dass ich jetzt Klavier lerne. Meine Eltern waren relativ überrascht.

Haben Ihre Eltern Instrumente gespielt?

Nein, sie waren keine Musiker:innen oder Künstler:innen, ich bin die einzige in meiner Familie, die bisher diesen Weg eingeschlagen hat. Mein Vater ist zwar Kameramann und mein Bruder Filmproduzent, aber das hatte nicht direkt etwas mit dem Fokus zu tun, den ich damals hatte. Ich war zu der Zeit auf dem Gymnasium und parallel in der Musikschule und habe mich dann, 1999, als die Bombardierung in Belgrad begann, dazu entschlossen, auf ein spezialisiertes Musikgymnasium zu gehen. Auf dem klassischen Gymnasium bin ich aber geblieben, denn meine zweite große Liebe war die Physik – und das ging nur dort.

Das klingt irgendwie unmöglich, als Jugendliche zwei Schulen gleichzeitig zu besuchen.

Das war es im Nachhinein betrachtet auch, aber für mich war es absolut notwendig. Ich habe so unglaublich viel gleichzeitig gemacht. Auf dem Musikgymnasium habe ich mich auf eine Karriere als Konzertpianistin vorbereitet. Gleichzeitig habe ich meine Liebe zum Theater entdeckt und auch ein paar Regiepreise gewonnen. Dann hatte ich keine Lust mehr und habe die Malerei wieder angefangen. Es war das gleiche, nach ein paar Ausstellungen wollte ich nicht mehr. Aber die Musik war wie eine Konstante immer da, auch wenn ich nicht sicher war, ob die Pianistinnenkarriere mein Ding ist. Und zum Schluss, nach diesem Abenteuer mit mehreren verschiedenen Karrieren, die ich angefangen und abgebrochen hatte, habe ich dann beschlossen, alles aufzugeben, beide Schulen zu verlassen und Komposition zu studieren.

Wie alt waren Sie denn zu dem Zeitpunkt?

Sechzehneinhalb.

Und wann haben Sie das Studium begonnen?

Mit 17 habe ich die Aufnahmeprüfung an der UDK Belgrad bestanden, hatte aber noch kein Abitur. Ich habe also erst angefangen zu studieren und dann, als ich im sechsten Semester war, habe ich das Abitur nachgeholt.

Woher kam der Wunsch zu komponieren?

Das kam beim Spielen und beim Üben. Es passierte immer wieder, dass ich in die Improvisation gegangen bin, dass ich kleine Stellen in Stücken geändert habe und so weiter. Am Ende habe ich immer mehr improvisiert und immer weniger geübt. In dieser Sphäre, dem Schreiben von Musik, habe ich mich sehr wohl gefühlt.

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Sie haben aber nicht nur in Belgrad studiert, sondern auch in Strasbourg, in Paris am IRCAM und in Berlin an der Musikhochschule Hanns Eisler. Warum diese vielen verschiedenen Universitäten?

Egal, wo ich war, ich hatte nie das Gefühl, in einer dieser Schulen das zu lernen, was ich lernen wollte. Es reichte mir nicht. Ich hatte immer das Bedürfnis, tiefer in die Materie einzudringen.

Die vier Hochschulen sind aber extrem unterschiedlich.

Ja, in jeder Hinsicht. Und diese extremen Unterschiede haben mir am Ende dabei geholfen, das zu finden, was wirklich meins ist. Als Studentin war ich nicht einfach. Manche Mentor:innen haben es geschätzt, manche überhaupt nicht, aber das ist auch nur menschlich. Während des Studiums habe ich sehr viel ausprobiert und tue es immer noch, mein Stil entwickelt sich permanent. Wenn ich irgendwann das Gefühl habe: ›jetzt habe ich es gemeistert‹ oder ›ich mache es ab jetzt nur noch so und so‹ – dann werde ich aufhören. Dann hat es keinen Sinn mehr. Das Komponieren ist ein dynamischer Beruf.

Die Komponistin Milica Djordjević verliert das Interesse, sobald sie etwas meistert. Ein Interview in @vanmusik.

Was ist aus den anderen Professionen geworden?

Sowohl die Malerei als auch die Physik sind immer noch ein wichtiger Teil meines Lebens. Wenn ich komponiere, ist mein erster Impuls für die Darstellung, also die Notation des Klangs das Zeichen. Am Anfang ist alles graphisch! Und die Physik ist für mich sowieso untrennbar mit der Musik verbunden. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.